Wohnungsrecht ermitteln: Schritt-für-Schritt
Das Wohnungsrecht nach den Paragraphen 1093 ff. BGB spielt in der Immobilienbewertung eine zentrale Rolle. Damit das Wohnungsrecht fachgerecht bewertet werden kann, ist ein Grundverständnis der rechtlichen Konstruktion und der finanzmathematischen Methode erforderlich.
Das Wichtigste in Kürze
Das Wohnungsrecht ist ein beschränkt dingliches Recht. Es berechtigt eine bestimmte Person, eine Wohnung oder ein Haus unentgeltlich zu nutzen. Typisch ist der Fall, dass Eltern ihr Eigenheim auf die Kinder übertragen, sich jedoch ein lebenslanges Wohnungsrecht für eine Einliegerwohnung oder das gesamte Haus vorbehalten.
Wichtige Punkte:
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Der Wohnungsberechtigte darf die Wohnung nutzen, ohne hierfür eine Miete zu entrichten.
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Das Recht ist personengebunden und nicht übertragbar.
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Für den Eigentümer stellt das Wohnungsrecht eine wertmindernde Belastung des Grundstücks dar, da er die Immobilie nicht frei vermieten oder selbst nutzen kann.
Kostenverteilung:
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Der Wohnungsberechtigte trägt in der Regel die laufenden Verbrauchskosten, also Strom, Wasser, Abwasser, Heizung und die anteilige Grundsteuer.
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Nicht umlagefähige Bewirtschaftungskosten, zum Beispiel Instandhaltungskosten für das Gebäude oder Verwaltungsaufwand, verbleiben beim Eigentümer. Diese Kosten werden bei der Bewertung des Wohnungsrechts nicht zusätzlich mindernd angesetzt, da sie im normalen Ertragswertmodell bereits berücksichtigt sind.
1.Grundidee der Bewertung: Wohnungsrecht als Leibrente
Der wirtschaftliche Nachteil des Eigentümers wird in Form des kapitalisierten Rohertrags ermittelt. Das Wohnungsrecht wird so behandelt, als würde der Eigentümer dem Berechtigten eine lebenslange Mietersparnis zahlen.
Die zentrale Idee lautet:
Das Wohnungsrecht entspricht einer lebenslangen, regelmäßig wiederkehrenden Zahlung, die der Eigentümer wirtschaftlich verliert.
Daraus folgt:
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Zunächst wird ein fiktiver jährlicher Rohertrag berechnet, den der Eigentümer ohne Wohnungsrecht erzielen könnte.
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Anschließend wird der Leibrentenbarwertfaktor, kurz LBF, bestimmt. Dieser Faktor gibt an, wie viel eine lebenslange jährliche Zahlung von 1 Euro heute wert ist.
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Der Barwert des Wohnungsrechts ergibt sich aus dem Produkt von jährlichem Rohertrag und LBF.
Die Laufzeit des Wohnungsrechts ist an die Lebenserwartung der berechtigten Person gekoppelt. Die Berechnung basiert daher auf Sterbetafeln und einem Zinssatz, der meist aus dem örtlichen Liegenschaftszinssatz abgeleitet wird.
2. Die wichtigsten Parameter im Überblick
Für die Bewertung eines Wohnungsrechts sind vier zentrale Parameter maßgeblich.
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Es wird das vollendete Lebensalter am Bewertungsstichtag zugrunde gelegt.
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Grundlage bilden die Sterbetafeln des Statistischen Bundesamts.
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Je höher das Alter, desto kürzer ist die Restlebenserwartung. Der Leibrentenbarwertfaktor sinkt und der Barwert des Wohnungsrechts wird kleiner.
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Der Zinssatz dient zur Abzinsung der zukünftigen Rentenzahlungen auf den Bewertungsstichtag.
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Er drückt aus, wie stark zukünftige Zahlungen im Vergleich zu heutigen Zahlungen an Wert verlieren.
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Mit steigendem Zinssatz sinkt der Barwert.
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In der Praxis orientiert sich der anzusetzende Zinssatz an einer risikoarmen, langfristigen Kapitalverzinsung. Häufig wird der Liegenschaftszinssatz des Gutachterausschusses verwendet
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Bei vorschüssigen Zahlungen wird die Rente jeweils zu Beginn der Zahlungsperiode gezahlt, beispielsweise am ersten Januar eines Jahres.
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Bei nachschüssigen Zahlungen erfolgt die Zahlung am Ende der Periode.
Finanzmathematisch gilt:
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Eine vorschüssige Zahlung fließt früher zu und kann länger verzinst werden.
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Deshalb ist der vorschüssige Leibrentenbarwertfaktor grundsätzlich höher als der nachschüssige.
Für Wohnungsrechte wird in Analogie zur Miete regelmäßig eine monatliche vorschüssige Zahlung angenommen, also eine Zahlung zu Beginn eines jeden Monats.
Dieser Parameter beschreibt die Zahlungsfrequenz:
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12 Zinsperioden pro Jahr: monatliche Zahlungen
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4 Zinsperioden pro Jahr: vierteljährliche Zahlungen
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1 Zinsperiode pro Jahr: jährliche Zahlung
Je häufiger Zahlungen erfolgen, desto früher fließt das Geld zu. Dies führt zu einer geringeren Abzinsung und damit zu einem etwas höheren Barwert.
3. Leibrentenbarwertfaktor (LBF) verstehen
Der Leibrentenbarwertfaktor ist der zentrale Baustein der Bewertung.
Der LBF gibt an, wie viel eine lebenslange, regelmäßig wiederkehrende Zahlung von 1 Euro heute wert ist. Er berücksichtigt:
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die Restlebenserwartung der betreffenden Person
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den gewählten Zinssatz als Diskontierungsfaktor
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die Zahlungsweise sowie die Zahlungsfrequenz
Der LBF ermöglicht es, den Kapitalwert einer Leibrente oder eines Wohnungsrechts zu bestimmen. Die Nutzungsdauer des Wohnungsrechts entspricht dabei der Lebenserwartung der berechtigten Person.
Die nachfolgende Formel zeigt die Berechnung des Leibrentenbarwertfaktors. In der praktischen Immobilienbewertung werden die Werte jedoch nicht manuell berechnet. Die Gutachter greifen auf Tabellen und Rechentools der Gutachterausschüsse (oftmals Kiel) zurück.
4. Vorgehen mit dem Leibrentenbarwertfaktor in der Praxis
Viele Gutachterausschüsse stellen Tabellen oder Excelwerkzeuge zur Verfügung, mit denen der LBF unmittelbar bestimmt werden kann. Die im Beispiel verwendeten Werte stammen aus den Unterlagen des Gutachterausschusses Kiel.
In der Excel erfolgt die Bestimmung des LBF üblicherweise in folgenden Schritten:
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Auswahl des Geschlechts der berechtigten Person.
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Eingabe des vollendeten Alters am Bewertungsstichtag.
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Eingabe des Zinssatzes, in der Regel des Liegenschaftszinssatzes, hier 2,60 Prozent.
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Festlegung, ob die Rente vorschüssig oder nachschüssig gezahlt wird. Für Wohnungsrechte wird regelmäßig die vorschüssige Variante unterstellt.
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Auswahl der Anzahl der Zinsperioden im Jahr, im Beispiel 12 bei monatlicher Zahlung.
Die Excel liefert zunächst einen jährlichen Leibrentenbarwertfaktor für eine vorschüssige Zahlung. Dieser bezieht sich auf eine einmal jährlich im Voraus gezahlte Leibrente von einem Euro.
5. Vom jährlichen zum monatlichen LBF
Da Wohnungsrechte in der Regel als monatlich gezahlte Mietersparnis interpretiert werden, muss der jährliche LBF auf monatliche Zahlungen angepasst werden. Hierzu wird ein Korrekturfaktor verwendet.
Im dargestellten Beispielsfall gelten folgende Eckdaten:
| Parameter | Wert |
|---|---|
| Person | Mann |
| Alter | 66 Jahre |
| Zinssatz | 2,60 % |
| Zahlungsweise | jährlich vorschüssig |
| Leibrentenbarwertfaktor (jährlich) | 13,7034 |
Der jährliche Leibrentenbarwertfaktor beträgt in diesem Fall 13,7034. Das bedeutet:
Eine jährlich im Voraus gezahlte Leibrente von einem Euro hat bei diesen Parametern einen Barwert von 13,7034 Euro, rund 13,70 Euro.
Für monatliche Zahlungen werden die Zahlungszeitpunkte dichter verteilt. Das Geld fließt häufiger zu und wird weniger stark abgezinst. Der Barwert steigt daher leicht an. Um diesen Effekt abzubilden, verwenden die Gutachterausschüsse empirisch ermittelte Korrekturwerte. Im Beispiel wird ein Korrekturfaktor von 0,4626 verwendet.
Die Umrechnung erfolgt wie folgt:
| Rechenschritt | Wert |
|---|---|
| LBF jährlich vorschüssig | 13,7034 |
| abzüglich Korrekturfaktor | - 0,4626 |
| ergibt LBF korrigiert | 13,2408 |
Das Minuszeichen resultiert aus der rechnerischen Umstellung von einer jährlich vorschüssigen Leibrente auf eine monatlich vorschüssige Leibrente. Die Korrekturwerte werden standardisiert vorgegeben und müssen nicht selbst abgeleitet werden.
Der korrigierte Leibrentenbarwertfaktor von 13,2408 bedeutet:
Eine monatlich vorschüssig gezahlte Leibrente mit einem Jahresbetrag von einem Euro hat bei diesen Parametern einen Barwert von 13,2408 Euro.
6. Wohnungsrecht bewerten
Im folgenden Abschnitt werden die einzelnen Berechnungsschritte zusammengeführt
| Schritte | Beschreibung |
|---|---|
| Schritt 1: Datenerhebung | Zunächst werden alle relevanten Informationen erfasst:
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| Schritt 2: Liegenschaftszinssatz festlegen | Der Zinssatz dient als Diskontierungszins für die zukünftigen Zahlungen. Im Beispiel beträgt der Liegenschaftszinssatz 2,60 Prozent. |
| Schritt 3: Leibrentenbarwertfaktor bestimmen | Im Rechentool oder in der Tabelle des Gutachterausschusses werden folgende Angaben gemacht:
LBF korrigiert = 13,2408 |
| Schritt 4: jährlichen Rohertrag ermitteln | Anschließend wird der jährliche Nutzungsvorteil berechnet, der dem Wohnungsberechtigten zugutekommt und dem Eigentümer entgeht.
Im Beispiel:
10.112,15 Euro + 840,00 Euro = 10.952,15 Euro Dieser Betrag stellt die fiktive Jahresmiete dar, die ohne Wohnungsrecht am Markt erzielbar wäre. |
| Schritt 5: Barwert des Wohnungsrechts bestimmen | Im letzten Rechenschritt wird der jährliche Rohertrag mit dem korrigierten Leibrentenbarwertfaktor multipliziert:
Barwert des Wohnungsrechts |
7. Berücksichtigung der allgemeinen Wertverhältnisse durch eine Marktanpassung
Neben der rein finanzmathematisch ermittelten Größe der wirtschaftlichen Wertermittlung ist im Allgemeinen ein Marktanpassungsabschlag zu berücksichtigen. Dabei spielt vor allem die verbleibende Unsicherheit, ob die berechtigte Person tatsächlich so lange überlebt, wie die aus der Statistik abgeleiteten Leibrentenbarwertfaktoren dies vorgeben, eine große Rolle. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, wie hoch die wirtschaftliche Wertminderung im Verhältnis zum unbelasteten Verkehrswert ist und wie sich das Immobilienangebot vor Ort darstellt. Der Marktanpassungsabschlag kann jedoch niemals genau berechnet werden. Es ist lediglich möglich, anhand der wertrelevanten Faktoren abzuschätzen, ob der Marktanpassungsabschlag besonders hoch oder besonders niedrig ist. Diese Abschätzung kann beispielweise anhand folgender Tendenzen durchgeführt werden:
- Je höher die Restlaufzeit des Nießbrauchs, desto höher ist die Marktanpassung, da das Risiko über einen langen Zeitraum besteht.
- Je höher die wirtschaftliche Wertminderung im Verhältnis zum unbelasteten Verkehrswert, desto größer ist die Marktanpassung.
- Ist das Immobilienangebot hoch, so werden sich potenzielle Kaufinteressenten eher für ein nicht belastetes Objekt entscheiden. Bei geringem Angebot und entsprechend hoher Nachfrage werden Interessenten auch auf belastete Objekte ausweichen, sodass der Abschlag geringer ausfallen wird.
Der Marktanpassungsabschlag ist daher stets individuell zu bestimmen und hängt vom jeweiligen spezifischen Bewertungsfall ab. Zur möglichst realistischen Ermittlung des Abschlags bietet sich die Anwendung eines Zielbaumverfahrens an.
8. Merksätze für Studium und Praxis
Zum Abschluss einige zusammenfassende Merksätze:
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Das Wohnungsrecht ist ein dingliches Nutzungsrecht und mindert als persönliche Dienstbarkeit den Immobilienwert.
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Bewertet wird der wirtschaftliche Nachteil des Eigentümers, nicht das Recht in abstrakter Form.
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Dieser Nachteil entspricht dem Barwert der ersparten Miete, die der Wohnungsberechtigte nicht zahlen muss.
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Der Leibrentenbarwertfaktor bildet Lebenserwartung, Zinssatz und Zahlungsweise ab und ist das Kernelement der Berechnung.
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Die notwendigen Faktoren und Korrekturwerte werden von den Gutachterausschüssen bereitgestellt und müssen nicht manuell hergeleitet werden.
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Der Barwert des Wohnungsrechts wird im Gutachten als Abzug vom ermittelten Gebäudewert oder Ertragswert angesetzt.
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